12
Sep
2008

Rudolf Borchardt

Borchardt

Die September-Sonette

I
Vom Tage nährt sich schon die Nacht verstohlen;
Schlaflose Stürme laufen in den Gärten
Und holen mich auf ihre blassen Fährten.
Ich binde mir die Flügel an die Sohlen
Und bin hinaus - (doch träum ich wohl). Mich holen
In ihre Reigen andere Gefährten -
Wo sah ich sie, die sich gleich Sternen mehrten
An heißen Abenden? - Ein Atemholen

Und alles hin, wie Duft. Ich bin ganz wach
Und weiß, ich geh, und sag: «Noch heute nur!»
Von Stunden ein verfließendes Gesind
Schwebt tönend fort durch Kammer, Tor und Flur.
Ich spüre vom erhobenen Gemach
Atmende Nacht und Bäume ohne Wind.

II
Atmende Nacht und Bäume ohne Wind
Verführen mich, an deinen Mund zu denken,
Und dass die Pferde, mich hinweg zu lenken,
Schon vor den Wagen angebunden sind;
Dass alles uns verließ, wie Wasser rinnt,
Dass von dem Lieblichsten, was wir uns schenken,
Nichts bleiben kann und weniges gedenken:
Blick, Lächeln, Hand und Wort und Angebind;

Und dass ich so einsam bekümmert liege,
Und dir so fern, wie du mir fern geblieben -
Die Silberdünste, die den Mond umflügeln,
Sind ihm so ferne nicht als ich dir fliege,
So ferne Morgenrot nicht Morgenhügeln,
Als diese Lippen deinen, die sie lieben.
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